Tagesanzeiger: Er macht Balkan-Musik queer

Der Bosnier Bozo Vreco fühlt sich als Mann und Frau. Und fand seine Befreiung in traditionellen Sevdah-Liedern. Wie, das erklärte und zeigte er in der Schweiz.

Der ausverkaufte Saal im Volkshaus Zürich ist in rotes Licht getaucht, der Schlagzeuger schlägt den Takt, das Publikum ist angespannt, so, als wolle es so rasch wie möglich den ersten Applaus loswerden. Wenige Momente später jubelt es. Bozo Vreco hat die Bühne betreten, oder eher: ist erschienen, tanzend, schwebend, ganz in Schwarz. Sein langer Faltenrock macht die fliessenden Bewegungen sanft mit, unter den weiten Maschen seines Netzoberteils blitzen Tattoos hervor. Seine helle Stimme füllt den Raum, wehmütig, klagend.

Nach einigen Takten stampft er auf den Boden, der Rhythmus wird schneller, der für den Balkan typische hüpfende Takt und die Trompete fährt ein, Bozo wirft seine langen schwarzen Haare zurück und setzt zu etwas an, was sich die nächsten zweieinhalb Stunden anfühlt wie ein verrückter Trip vom tiefsten, traurigsten Punkt, den eine Seele in all ihrem Schmerz erreichen kann, bis dorthin, wo sie sich von allem befreit. Das ist Sevdah, das ist Bozo Vreco.

«Sevdah ein Gemütszustand», sagt der 36-Jährige einen Tag vor dem Konzert in einem Hotel in Zürich mit ruhiger, weicher Stimme. Man sei wie verliebt und doch nicht mit der geliebten Person zusammen.

Hingezogen zum Schmerz – und zur Freiheit

Sevdah, oder auch Sevdalinka, ist eine traditionelle Musikrichtung aus Bosnien und Herzegowina, die auf dem ganzen Balkan verbreitet ist. Je nach der Sprache, aus der man das Wort Sevdah ableitet, bedeutet es schwarze Galle oder verliebt, melancholisch. Einige Lieder sind über 500 Jahre alt und stammen aus der Zeit der Osmanen. Sie erzählen von unerfüllter Liebe, Sehnsucht, Begierde und gebrochenen Herzen – ähnlich wie der portugiesische Fado mit der Saudade.

Die Melodien sind geprägt von arabischen und europäischen Einflüssen. Zu Beginn wurden die Lieder ohne Begleitung gesungen, erst später kamen Instrumente dazu, etwa das Saiteninstrument Saz oder das Akkordeon. Heute ist der Sevdah aus seinem zwischenzeitlichen Schattendasein unter Tito herausgetreten. Künstlerinnen wie Amira Medunjanin oder die Band Mostar Sevdah Reunion sind seine neuen, zeitgenössischen Stimmen – und Bozo Vreco.


Wenn er singe und tanze, befinde er sich in einer Art Rausch, sagt Bozo Vreco. Foto: Boris Müller

«Nicht ich habe zu dieser Musik gefunden, sie hat mich gefunden», erzählt Bozo, der aus Foca stammt und im ehemaligen Jugoslawien geboren wurde. Erst studierte er Archäologie in Belgrad. Doch die Lieder, die er bei seiner Mutter als Kind im Radio hörte, liessen ihn nicht los, nicht die Traurigkeit, nicht die Freiheit, die aus ihnen zu ihm sprachen. Denn auch wenn sich die Tragödie zweier Liebender im Text fortsetzt, die Musik fängt sie auf, verwandelt sie, lässt sie nach Hoffnung klingen. Er habe sich selbst gefunden in einer Gesellschaft, die konservativ sei, voller Regeln, Normen, Schubladen.

Bozo sieht sich als beides, Mann und Frau, mit allen Nuancen dazwischen. Ausgerechnet in den Texten traditioneller Lieder fand er seine Befreiung. «Sevdah hat kein Geschlecht», vielleicht habe er sich deshalb so in diese Musik verliebt. Sevdah sei mehr, als viele darin sehen, ein Vogel im Käfig, dem man die Tür öffnen müsse, damit er in seinem eigenen Himmel fliegen könne. Ein Lied, 100 Formen. Bozo fand seine ganz eigene.

Keine Berührungsängste

Er singt aus der Perspektive von Männern, von Frauen, singt, wie er sich in Männer verliebt, auf der Bühne streicht er mal dem Pianisten, mal dem Schlagzeuger über den Kopf. Beim ersten Mal lachen die Leute, dann nicht mehr. Bozo spielt mit dem Publikum, wechselt innert Sekunden zwischen Schalk und Ernst.

Die Art wie er singt, lässt keinen Zweifel daran, dass Sevdah von mehr erzählen kann als von der Liebe zwischen Mann und Frau. «Bozo, I love you!», ruft eine Männerstimme aus den hinteren Reihen des Saals. Bozo wirft eine Kusshand zurück.

«Kein Problem», sagte ein Mann mittleren Alters vor dem Konzert zu Bozos Identität, aber ungewöhnlich sei so jemand in Bosnien, meinte eine Frau Mitte 20. Nicht alle aus ihrer Familie seien mit diesem Lebensstil einverstanden, Homosexualität sei weiterhin ein Tabu. Seine Musik würden die Verwandten in Bosnien trotzdem hören. Die junge Frau sowieso. Für sie töne seine Musik nach einem Stück Heimat. Dort treffen verschiedene Kulturen seit Jahrhunderten aufeinander, «er verkörpert das».

Stark sein für andere

Für Vreco selbst ist seine Musik eine Revolte gegen das, was in seinem Heimatland schiefläuft. Seine Musik reisse Grenzen ein, daraus entstünden viele gute Dinge, «sogar in Bosnien». Fragen nach schwierigen Zeiten weicht er aus. Es habe Auf und Ab gegeben. Das queere Leben in Bosnien sei tough und gefährlich. Man müsse stark sein, um für andere ein Vorbild sein zu können. An der ersten Pride in Bosnien, letztes Jahr im Herbst, lief er in der vordersten Reihe mit, «endlich die Türen und Fenster zu Europa, zur Welt öffnen», auch wenn noch viel zu tun bleibe.

Auf der Bühne strahlt er all das weg, reisst den Saal von den Stühlen, ohne dabei in schmissige, kitschige Folklore zu verfallen. Seine eindringliche Stimme ist eine Aufforderung mitzufühlen, mitzuleiden und sich mit ihm im Moment zu befreien. Rundherum singt das Publikum mit, als wäre es ein einziger Klangkörper. Bei den alten wie den neuen, von ihm geschriebenen Liedern wiegt sich hin und her.

Wie in Ekstase dreht sich Bozo zur Musik, wie ein Derwisch, sein Rock dreht sich mit, diesmal nicht sanft, sondern scharf wie ein kreisender Teller hoch über dem Boden. Der Takt ist wieder schneller geworden, überall Arme in der Luft, Hände, die klatschen. Die Befreiung, von der er gesprochen hat, kommt im Hier und Jetzt an. Der Saal scheint sich aufzulösen, Teil einer Welt zu werden, in der alle Sevdah sind und sich selbst finden, so wie Bozo.

Tagesanzeiger.ch / 05.02.2020

 

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